Für eine umfassende Analyse der Kernkraftwerks-Katastrophe von Fukushima Daiichi ist es zu früh. Denn erst langsam beginnt der Betreiber TEPCO damit, Detail-Daten der Katastrophe zugänglich zu machen, und nicht nur per Pressemitteilung seine Sicht der Dinge darzustellen. Das ist zumindest zum Teil verständlich: Die Top-Leute des Betreibers TEPCO kümmerten sich anfangs vor allem um die Stabilisierung der Anlage und nicht um das Schreiben von Berichten.
Die genauen Details der Ereignisse werden sich zudem erst aufklären lassen, indem man das Atom-Wrack genauer untersucht. Bis jetzt hat man aber nur Teile der Gebäude für jeweils kurze Zeit betreten können. Die starke Strahlung und die Wassermassen zur Kühlung verhindern weiterhin den Zugang zu vielen Bereichen. Das wird sich erst in einigen Jahren ändern, wenn die derzeit dominierenden Spaltprodukte mit einer Lebensdauer von bis zu einem Jahr abgeklungen sind.
Andererseits kristallieren sich einige Probleme und Versäumnisse bereits jetzt heraus. Die wichtigsten sind unten aufgelistet. Aber auch diese Ausführungen sind mit Vorsicht zu betrachten: Im Nachhinein ist es immer einfach, zu eruieren, was einen konkreten Unfall verhindert hätte. Doch können die Maßnahmen, die einen bestimmten Unfall verhindert hätten, durchaus einen anderen provozieren. Beispiel: Zusätzliche Sicherheitssysteme erhöhen die Zahl der Bedienelemente und Rohrverbindungen. Bedienfehler oder katastrophale Rohrversager werden dadurch wahrscheinlicher.
Jedes Erdbeben verläuft anders. Selbst, wenn man die Stärke abschätzen kann: Schwingungsebene und genaue Frequenz von Erdbebenwellen lassen sich nicht vorhersagen. Entsprechend schwierig ist es, Gebäude absolut erdbebensicher auszulegen. Bei Kernkraftwerken muss nicht nur das Gebäude selber den Erdstößen widerstehen, sondern auch dessen hochkomplexes technisches Innenleben: Steuerstäbe dürfen nicht verkanten, Hochdruckrohre nicht abreißen, Pumpen und Ventile nicht versagen.
Bei einem schweren Erdbeben erfolgt bei allen Großkraftwerken, egal ob thermisch oder nuklear, eine Schnellabschaltung. Bevor ein Wiederanfahren möglich ist, müssen die zentralen Komponenten auf Schäden geprüft werden. Dadurch kommt es im Erdbebengebiet zwangsläufig zu Strommangel. Zugleich benötigen die abgeschalteten Kernkraftwerke eine permanente Stromversorgung von außen, um die eigene Kühlung aufrecht zu erhalten. Dadurch kommt man nach einem schweren Erdbeben fast zwangsläufig in eine kritische Betriebssituation. Selbst dann, wenn keine Systeme in den Kernkraftwerken selber versagen.
Beispiele für Schäden durch das Tohoku-Taiheiyou-Oki-Erdbeben:
Es ist nicht ganz klar, ob die externe Stromversorgung in Fukushima Daiichi schon durch das Erdbeben, oder erst durch den Tsunami zerstört wurde. Die Erdbebenschäden an den Reaktoren und der Verlust der externen Stromversorgung sind der erste Schritt auf dem Weg in die Katastrophe.
In der Nachbaranlage Fukushima Daini, wo die Stromversorgung die ganze Zeit bestand, gab es nach Erdbeben und Tsunami zwar ebenfalls zunächst erhebliche Probleme. Die Situation konnte aber dort wieder unter Kontrolle gebracht werden.
Die Lage direkt am Meer ist für das Kraftwerk Fukushima Daiichi Fluch und Segen zugleich: Fluch, weil der Tsunami nach der bisher vorherrschenden Interpreation die Notstromversorgung von Block 1 bis 4 zerstörte, zum Beispiel, indem Brennstoff für die Notstromaggregate mit Wasser vermischt wurde. Zudem wurden durch den Tsunami die Kühlmitteleinläufe aller Blöcke in Fukushima Daiichi und Daini stark in Mitleidenschaft gezogen. Die Tsunami-Schäden sind der zweite Schritt auf dem Weg in die Katastrophe.
Ein Segen ist die Lage am Meer, weil sich ins Meer eingebrachte radioaktive Stoffe dort schnell auf das gesamte dreidimensionale Volumen verteilen und somit stark verdünnen. An Land freigesetzte radioaktive Spaltprodukte wie Jod-131 oder Cäsium-137 verteilen sich zwar anfangs als Aerosol ebenfalls über ein sehr großes Luftvolumen, werden aber vom nächsten Regen ausgewaschen und bleiben dann zum größten Teil dort, wo der Regen aufschlägt. Dadurch konzentriert sich die freigesetzte Strahlung an Land auf die zweidimensionale Erdoberfläche und damit genau den Bereich, in dem die Menschen leben und die Pflanzen wachsen, von denen sie sich ernähren. Zum Glück wehte der Wind die meiste Zeit Richtung Meer.
In den Blöcken 5 und 6 von Fukushima Daiichi funktionierte die ganze Zeit wohl mindestens eines der beiden Notstromaggregate. Dieses reichte, um die dortigen Reaktoren ausreichend zu kühlen. Freilich war dort der Kühlbedarf geringer als in Block 1 bis 3, da die Blöcke 5 und 6 schon einige Monate vor dem Erdbeben und Tsunami zur Revision heruntergefahren worden waren.
Dennoch: Der rettende Strom war nur wenige hundert Meter weg bei Block 5 und 6. Möglicherweise hätte dieser auch gereicht, um in den Blöcken 1 bis 4 zumindest die allernötigsten Systeme (Licht im Kontrollraum und je eine Einspeisepumpe für den Reaktor, bzw. bei Block 4 für das Abklingbecken) zu betreiben, notfalls in Rotation: Erst Block 1, dann Block 2 usw.
Nun kann man aber nicht einfach eine Stromschiene bauen, die den Strom von einem Generator zu den anderen Blöcken trägt. Denn wenn letztere zu viel Strom abnehmen, würden sie den Generator überlasten und damit auch die letzte funktionierende Stromversorgung vernichten. Im Strommangelfall ist daher ein genau dosiertes Haushalten mit dem wenigen noch zur Verfügung stehenden Strom nötig.
Die Verwaltung eines beschränkten Stromangebots ist die klassische Aufgabe für moderne digitale Powermanagement-Systeme, wie man sie in Handys und Laptops zur optimalen Nutzung des knappen Batteriestroms findet. In Satelliten, dir nur begrenzt Solarstrom zur Verfügung haben, kommen diese ebenfalls zum Einsatz. Freilich baut man solche komplexen digitalen Systeme bisher ganz bewusst wegen ihrer hohen Störanfäligkeit nicht in Kernkraftwerke ein! Andererseits gibt es in Kernkraftwerken ebenso bewusst mehrere unabhängige Notkühlsysteme. Und dass keines davon als energieoptimiertes digitales System ausgelegt ist, ist vom heutigen Stand der Technik aus betrachtet eine sträfliche Vernachlässigung.
Durch die Zertrümmerung von Urankernen entstehen in Kernreaktoren zahlreiche Spaltprodukte. Die meisten davon sind radioaktiv. Das Problem: Auch nach Abschaltung der durch Neutronen vermittelten Kettenreaktion strahlen die Spaltprodukte weiter. Sie müssen also von der Umgebung abgeschirmt werden. Zugleich setzt die Strahlung aber viel Energie frei, die letztendlich in Wärme umgewandelt wird. Diese muss weggekühlt werden. Andernfalls wird es im gut abgeschirmten Reaktorinneren immer heißer. So heiß, dass alles schmilzt oder gar verdampft, insbesondere auch Stahl und Beton.
Dieses Problem ist allen Kernkraftwerken gemein: Auch nach dem Ausschalten der Kettenreaktion muss der Atommüll, der sich in den Brennelementen angesammelt hat, wegen der radioaktiven Strahlung unbedingt von der Umgebung isoliert als auch weiterhin gekühlt werden.
Unter dem Reaktordruckbehälter befindet sich bei den Kernkraftwerken des in Fukushima Daiichi gebauten Typs ein schlauchförmiges Becken mit kaltem Wasser. Dieser wird in den Berichten meist als "Wet Well" oder "Torus" bezeichnet. Es gibt nun eine geradezu geniale dampfbetriebene Notkühlpumpe: Diese kann die Energie aus heißem Dampf aus dem Reaktordruckgefäß nutzen, um kaltes Wasser aus dem Wet Well in den Reaktor zu pressen! Der heiße Dampf aus dem Reaktor wird dabei in den Wet Well geleitet, wo er vom kalten Wasser kondensiert wird.
In Block 1 waren die Schäden nach dem Erdbeben wohl so groß, dass die Notkühlsysteme bereits vor dem Eintreffen des Tsunami versagten. In Block 2 und 3 konnte das beschriebene Dampf-Notkühlsystem hingegen eine Zeit lang die Kühlung gewährleisten. Aus den Angaben des Anlagen-Betreibers TEPCO und zahlreichen Berichten in den Medien lassen sich aber Schwächen des dampfbetriebenen Notkühlsystems ableiten:
Alle drei vorgenannten Probleme sind konstruktive Schwächen des Reaktortyps von Fukushima Daiichi. So würden sich die Reaktorbaukosten nur geringfügig erhöhen, wenn der Dampf nicht nur eine Notkühlpumpe, sondern auch einen kleinen Generator antreibt. Dieser erzeugt dann Strom zum Aufladen der Batterien und zur Versorgung der allernötigsten Systeme.
Das Fehlen eines solchen autarken Notkühlsytems, das trotz Ausfall der primären (externen) und sekundären (Notstromgenerator) Stromversorgung dauerhaft funktionsfähig bleibt, ist der dritte Schritt in die Katastrophe.
Kernkraftwerke erzeugen ihre Energie aus der Spaltung von Atomkernen und dem radioaktiven Zerfall, nicht aus normalem Feuer. Damit der atomare Brennstoff (Uran oder Plutonium) nicht doch Feuer fängt, wird er als Oxid, also quasi als "verbranntes Metall", in die Brennelemente gefüllt. Urandioxid oder Plutoniumdioxid reagiert an Luft oder mit Wasser nicht weiter. Und der Schmelzpunkt liegt bei beiden weit über 2000 °C.
Leider sind Uran- und Plutoniumdioxid wie die meisten Oxide glasartige bzw. keramische Substanzen: Hart, aber spröde. Ein fester Schlag, und man hat zahllose hoch radioaktive Scherben im Reaktor.
Man braucht daher ein elastisches, belastbares, hitzestabiles, gut wärmeleitendes und nicht mit Neutronen reagierendes Material, um daraus Umhüllungen (zum Bespiel Rohre oder Hohlkugeln) zu fertigen, die die keramischen Uran-Pellets schützen. Bisher kennen die Reaktorexperten weltweit nur so gut wie eine Antwort auf diese Materialfrage: Zirkonium. Dieses besitzt tatsächlich alle geforderten Eigenschaften. Zumindest fast.
Denn Zirkonium ist nur bis ca. 500 °C stabil. Schon bei etwas höheren Temperaturen oxidiert es, und bei noch höheren Temperaturen fängt es regelrecht zu brennen an! Zirkonium wird daher auch zur Herstellung von Blitzlampen, weiß brennendem Feuerwerk und Leuchtspurmunition verwendet. Kaum vorstellbar, dass derselbe Stoff tonnenweise im Reaktorkern verwendet wird! Schlimmer noch: Selbst unter Wasser bzw. Dampf kann Zirkonium "brennen". Es entreißt dann den Wassermolekülen den Sauerstoff. Übrig bleibt Wasserstoff, der, wenn er später entweicht und sich mit Luft mischt, schwere Explosionen verursachen kann.
Es reicht, dass Teile des Reaktorkerns durch den radioaktiven Zerfall der Spaltprodukte einige hundert Grad über die normale Betriebstemperatur hinaus erhitzen, um das Zirkoniumfeuer zu zünden. Die dabei freiwerdende Wärme heizt den Reaktorkern schnell weiter auf und bringt damit auch weiter außen liegende, noch nicht ganz so heiße Brennelemente über die Zündtemperatur. Binnen kurzem entwickelt sich ein verhängnisvolles Zirkonium-Feuerwerk im Reaktorkern, das genügend Wärme erzeugt, um auch das Uranoxid schmelzen zu lassen. Löschen lässt sich so ein Zirkonium-Feuer im Reaktorinneren, wenn ein Notkühlsystem wieder in Gang kommt und schlagartig große Mengen kalten Wassers einspeist, das die erhitzten Brennelemente abkühlt.
Zwischen der Temperatur, an dem das Zirkon-Feuer zündet, und der Temperatur, an der der Kern schmilzt, liegen ca. 1 000 °C. Ohne die Zusatz-Energie aus dem Zirkonium-Feuer würde die Kernschmelze erst sehr, sehr viel später beginnen und sehr viel gemächlicher verlaufen. Das würde dem Kontrollpersonal zeitliche Zeit zur Reaktion und Reparatur beschädigter Systeme verschaffen.
Brennbare Brennelemente verkürzen die Reaktionszeiten erheblich, die den Kontrollteams zur Verfügung stehen, um die nach einem Kühlungsausfall sich anbahnende Katastrophe doch noch abzuwenden. Sie sind somit der vierte und letzte Schritt in die Katastrophe: Die verhängnisvollen Zirkonium-Wasser-Reaktion liefert die Energie für die Kernschmelze und produziert Wasserstoff, dessen Explosion später weitere Schäden verursacht. Danach ist der Reaktor nicht mehr unter Kontrolle zu bringen, es geht nur noch um Schadensbegrenzung.
Containment (aus Beton) und Sicherheitsbehälter (aus Stahl) sind bei den Reaktoren in Fukushima Daiichi sehr klein. Diese können nur geringe Mengen an Wärme, Dampf und Wasserstoff aufnehmen, wie sie bei einer Kernschmelze entstehen. Folglich sind die Bedienmannschaften gezwungen, schon kurz nach einer Kernschmelze eine Druckentlastung durchzuführen. Dabei werden unweigerlich große Mengen an radioaktiven Stoffen freigesetzt. Diese kontaminieren die gesamte Anlage und machen damit Arbeiten an den weiteren Reaktoren so gut wie unmöglich.
Mit größerem Sicherheitsbehälter hätte es in der kritischen Phase zwischen einem und vier Tagen nach dem Erdbeben möglicherweise noch keine Freisetzung von Radioaktivität gegeben. Dadurch hätte die Kaskade, dass nach dem Reaktor 1 auch in Reaktor 3 und 2 die Kerne schmelzen, und das Lagerbecken in Reaktorgebäude 4 überhitzt, wahrscheinlich zumindest zum Teil verhindert werden können. Insbesondere hätte zur Kühlung des Lagerbeckens 4 ein Feuerwehrschlauch gereicht.
Wie dargestellt sammelt sich in Brennelementen immer mehr Atommüll an, je länger sie in einem laufenden Kernreaktor der Kettenreaktion ausgesetzt waren. Zugleich sinkt der Anteil an spaltbaren Stoffen immer weiter. Nach einigen Jahren müssen diese abgebrannten Brennelemente entnommen und durch neue ersetzt werden. Andernfalls erlischt das nukleare Feuer.
Weil sie noch so stark radioaktiv sind, müssen abgebrannte Brennelemente für mehrere Jahre unter Wasser gelagert und ständig gekühlt werden. Alle kommerziellen Reaktoren haben hierfür Lagerbecken. In dem in Fukushima Daiichi verbauten Typ befinden sich diese Abklingbecken außerhalb des Sicherheitsbehälters und außerhalb des Containments. Nur ein relativ schwaches Dach, wie es auch für Industriehallen verwendet wird, trennt diese Becken von der Umwelt. Unter dem Dach operieren Kräne, mit denen der Reaktor während Betriebspausen geöffnet werden kann, und mit denen Brennelemente hin- und herverschoben werden können.
Dieser Dachbereich wurde in Fukushima Daichii bei Reaktoren 1 und 3 durch Wasserstoffexplosionen komplett und bei Reaktor 4 zu großen Teilen zerstört. Vom Prinzip her lagern dort nun die abgebrannten und mit Atommüll angereicherten Brennelemente in einem "Freibad".
Besonders kritisch wurde die Situation im Abklingbecken von Reaktorgebäude 4: Der Reaktor 4 war schon drei Monate vor dem Erdbeben für Wartungsarbeiten heruntergefahren worden, und alle Brennelemente aus diesem ins Lagerbecken verlegt worden, um Reparaturen am Reaktor selber vornehmen zu könnnen. Zusammen mit den abgebrannten Brennelementen aus den Vorjahren, die dort schon lagerten, ergibt sich ein besonders hoher Kühlbedarf für das Becken 4.
Erdbeben und Tsunami brachten aber auch die Kühlung für das Abklingbecken in Reaktor 4 zum Erliegen. Dort passiert dann dasselbe wie in den Reaktoren der Blöcke 1 bis 3: Das Kühlwasser heizt sich auf und kocht. Der Wasserstand sinkt, schließlich ragen die Spitzen der Brennelemente aus dem Wasser heraus. Diese heizen sich weiter auf und die Zirkonium-Wasserdampf-Reaktion beginnt. Dabei entsteht Wasserstoff. Dieser explodiert kurze Zeit später und fegt das Dach weg.
Riesiges Glück im Unglück ist, dass die Explosion nach Angaben von TEPCO auch ein Schleusentor beschädigt, das den gefluteten offenen Reaktor und das Abklingbecken trennt. Große Massen kalten Wassers stürzen daraufhin in das Lagerbecken, kühlen die Brennelemente und beenden damit die gerade beginnende Kernschmelze unter freiem Himmel. Wenige Tage später stellt TEPCO die regelmäßige Kühlung im Abklingbecken wieder her, indem mit einer ferngesteuerten Betonpumpe Wasser eingeleitet wird.
Durch das Glück, dass die Explosion die richtigen Bauteile beschädigt hat, ist Japan gerade noch einmal an einer nuklearen Katastrophe vom Außmaß der in Tschernobyl vorbeigeschrammt, nämlich einer Kernschmelze unter freiem Himmel.
25.05.2011 20:00 Uhr